Demokratie im Griff der Globalisierung

Vortrag von Bernd Hamm im Rahmen der Grünauer Gespräche, Bürgerhaus Grünau, 23.10.2014

 

Meine Damen und Herren,

Seit Immanuel Kants kleiner Streitschrift Vom ewigen Frieden von 1795 ist der Ruf nach einer Weltregierung beständig lauter geworden. Sie hätte zumindest 2 Aufgaben: der unbegreiflichen Perversion, nach der Menschen ihre besten Köpfe, ihre klügsten Wissenschaftler, unglaubliche Mengen an Naturschätzen in die Aufgabe investieren, einander möglichst grausam umzubringen, ein Ende setzen. Und allen Menschen gleichermaßen einen gerechten Zugang zu den Schätzen der Natur im Rahmen der Produktivität dieser Natur zu sichern, also Nachhaltige Entwicklung zu garantieren. An beiden Aufgaben versagt die Menschheit heute jämmerlich.

Ich will hier untersuchen, auf welche Weise sich Demokratie im Prozess der Globalisierung verändert hat. Die technische Verfügbarkeit über Informationen, die Finanzialisierung und die Zunahme globaler Regime führen zu einer Veränderung unserer politischen Systeme hin zu einem Übergewicht der Exekutive auf Kosten demokratischer Kontroll- und Entscheidungsmechanismen. Sie begünstigen, was man in der englischsprachigen Diskussion den Deep State, den Dunklen Staat nennt. Hier, im ersten Teil der Untersuchung über Demokratie im Griff der Globalisierung, will ich zeigen, welche Trends in dieser Richtung wirken.

Im zweiten Teil der Untersuchung, voraussichtlich im Februar, will ich zeigen, in welchem Maße sich der Dunkle Staat bereits unserer Demokratie bemächtigt hat. Das will ich an einigen empirischen Fallbeispielen darstellen.

Meinen Vortrag heute habe ich in vier Fragen gegliedert: (1) Was ist Demokratie? (2) Was ist neu an der Globalisierung? (3) Was könnte Globale Demokratie sein? (4) Was sollten wir Europäer tun?

 

1. Was ist Demokratie?

Üblicherweise wird Demokratie definiert als eine bestimmte Art und Weise, verbindliche kollektive Entscheidungen zu organisieren. Nationale Verfassungen enthalten die wesentlichen Kriterien, etwa:

 

 

Demokratie ist also ein Kürzel für ein Bündel von Regeln, die in einem langen zivilisatorischen Prozess entstanden sind, seit den Herrschenden Habeas Corpus (1679) und die Bill of Rights (1689) abgerungen wurden. Die Menschen haben sie gegen feudale und aristokratische Machthaber erkämpft. Sie haben charismatische und traditionale Herrschaft überwunden und die Macht dem Recht unterworfen. Die Allgemeine Erklärung der Menschenrechte von 1948 wurde zu einer Zeit angenommen, als die mächtigsten Unterzeichnerstaaten noch Kolonialherren waren. Aber selbst sie haben ausdrücklich festgehalten, dass diese Rechte allen Menschen zustehen, ungeachtet ihrer „Rasse, Hautfarbe, ihres Geschlechts, ihrer Sprache, Religion, politischen Überzeugung, ihrer nationalen oder sozialen Herkunft, ihres Eigentums oder sonstiger Umstände".

Die Wertgleichheit, die in Art. 2 der Allgemeinen Erklärung zum Ausdruck kommt, ist die eigentliche Essenz dieser zivilisatorischen Leistung. Wir sind Menschen nur insofern, als wir unsere Mitmenschen achten wie uns selbst, besonders, wenn sie in irgendeiner Weise schwächer sind, Behinderte, Frauen, Arme, Kinder, Einwanderer, Analphabeten, Kriminelle, Besiegte. Sie alle sollen nicht minderen Rechts sein. Wir könnten sie unterdrücken, foltern, töten und haben das immer im Lauf der Geschichte auch getan. Aber niemand in der zivilisierten Welt bestreitet heute mehr, dass es sich dabei um Menschenrechtsverletzungen handelt. In Guantanamo werden Menschenrechte verletzt - und ich könnte noch viele andere Orte dazu nennen.

Daraus folgt, dass die Ausbeutung von Menschen durch Menschen - also der Gebrauch der eigenen Freiheit zum Nachteil anderer - grundlegende Menschenrechte verletzt, und ganz gewiss dort, wo anderen die Befriedigung ihrer Grundbedürfnisse verwehrt wird. Dennoch geschieht dies alltäglich in großem Umfang, z.B. wenn Menschen in Arbeitslosigkeit und Armut gestoßen werden. Das geringe Maß an öffentlichem Protest dagegen ist ein Hinweis darauf, dass wir uns an öffentliche Unrechtszustände gewöhnt haben. Dabei haben wir mannigfache Gründe zum Protest: Verschmutzte Böden und Wasser, genetisch manipulierte oder vergiftete Lebensmittel, saurer Regen und Smog, gesundheitsschädliche Strahlung, die dramatische Polarisierung zwischen Arm und Reich, Ungerechtigkeit, Korruption, Nepotismus und Wirtschaftskriminalität, Rassismus, Extremismus und Gewalt und natürlich Krieg, das schlimmste aller Verbrechen, um nur einige zu nennen.

Allerdings gibt es auch einige folgenreiche Missverständnisse: Demokratie ist nicht ein statisches Paradies, sondern ein niemals endender Prozess. Er verlangt ständiges Überdenken, Wachsamkeit, Engagement und aktives Mitgestalten aller BürgerInnen, wenn wir sie erhalten und fortentwickeln wollen.

Zweitens ist Demokratie nicht identisch, wie einige behaupten, ja nicht einmal logisch kompatibel mit Kapitalismus. Der Widerspruch ist offensichtlich: Demokratie basiert auf Gleichheit, während Kapitalismus auf Ungleichheit beruht, wo es Einigen zugestanden wird, sich den Mehrwert anzueignen, den andere erarbeiten. Sie nutzen also die eigene Freiheit, um die Freiheit anderer einzuschränken und sie ihrer Herrschaft zu unterwerfen. Wir in der kapitalistischen Welt tun so, als seien wir die entschiedensten Verfechter der Menschenrechte - und behaupten gleichzeitig, Kapitalismus und Demokratie seien nur zwei Seiten der gleichen Münze. Dieses Produkt des Kalten Krieges zeigt nur, dass die Propaganda nicht aufgehört hat. Die Gleichsetzung von Demokratie und Kapitalismus ist ideologisch, sie liegt im einseitigen Interessen einer Klasse.

Drittens ist Demokratie nicht unbedingt an die Existenz mehrerer politischer Parteien gebunden. Es gibt andere Formen der Entscheidungsfindung, die den genannten Kriterien genügen: Volksabstimmungen zum Beispiel, oder die Loya Jurga in Afghanistan, die Versammlung der Stammesführer; vielleicht auch die Vereinten Nationen, in deren Generalversammlung jedes Land eine Stimme hat. Politische Parteien sind dann undemokratisch, wenn sie sich den Staat zur Beute machen, wenn sie politische Ämter unter sich aufteilen, wenn sie wichtige Entscheidungspositionen nach Parteiloyalität statt nach fachlicher Eignung besetzen.

Schließlich sollten wir uns bewusst sein, dass die meisten Verletzungen von Menschenrechten und demokratischen Prinzipien indirekt geschehen und oftmals kaum mehr auf ihre Ursachen zurückgeführt werden können. Das ist gewiss der Fall bei den Strukturanpassungsprogrammen des Internationalen Währungsfonds, aber auch beim acquis communautaire, den die Europäische Union den Beitrittsländern aufgezwungen hat. Das geschieht gerade in großem Umfang in den südeuropäischen Ländern, eben dies war auch eine wesentliche Ursache der Ukrainekrise.

 

2. Was ist neu an der Globalisierung?

Das gesellschaftliche Modell, für das die Demokratie entwickelt worden war, ist der Nationalstaat. Demokratische Rechte sind den absolutistischen Herrschern im 18. Und 19. Jahrhundert abgerungen worden, die erst den Nationalstaat als rechtliche Einheit begründet hatten. Auch wenn er von Anfang an Beziehungen mit anderen Nationalstaaten unterhalten hatte, können wir einen qualitativen Wandel feststellen: Internationale Beziehungen bezeichnet ein mehr oder weniger dauerhaftes Muster von Austauschbeziehungen zwischen einer bestimmten Anzahl unabhängiger und relativ autonomer Staaten. Globalisierung bedeutet, dass das Austauschmuster über die Unabhängigkeit der Nationalstaaten dominiert, und dass tendenziell alle Nationalstaaten einbezogen werden.

Im Bereich der Politik, der hier am meisten interessiert, ist das Geflecht der Institutionen und Regime so dicht und bestimmend geworden, dass es die politischen Entscheidungen aller nationalen Regierungen weitgehend bestimmt. Es ist freilich wichtig, hier die nationale Basis politischer Akteure zu betonen. Regierungen bleiben abhängig von ihrer nationalen Wählerschaft und Klientel, die erheblichen Einfluss auf ihre Handlungsspielräume behalten. Ihre Wahrnehmung globaler Probleme und ihr Verhalten auf der internationalen Ebene bleibt freilich bestimmt durch eine exekutive Haltung, wenig beeinflusst von demokratischen Kontrollmechanismen. Sie lavieren zwischen diesen beiden Polen, indem sie die Transparenz und den Einfluss nationaler demokratischer Verfahrensweisen einschränken und ihr Verhalten durch globale Notwendigkeiten rechtfertigen. Ein typisches diplomatisches Resultat dieser Situation ist die Paketlösung, die auf der internationalen Ebene verhandelt wird (aktuell gerade die jetzt diskutierten Handelsverträge), aber den nationalen Parlamenten nur die Alternative zwischen Annahme oder Ablehnung lässt, ohne auf die Details Einfluss nehmen zu können. Der Vertrag über die Europäische Verfassung ist ein Paradebeispiel dafür. Sie sollte ursprünglich ihrer Bedeutung gemäß durch Volksabstimmungen in den Mitgliedsländern angenommen werden. Als die Volksabstimmungen in Frankreich und in den Niederlanden den Entwurf ablehnten, wurden die anderen geplanten Referenden abgesagt. Dann wurde der nahezu unveränderte Text durch die Parlamente gepeitscht: Welch ein Skandal! Die Regierungen, die wissen, dass diese Verfassung abgelehnt worden wäre, geben dem nahezu gleichen Text einen anderen Namen und setzen ihn in Kraft - und kein Protest regt sich!

Die Vereinten Nationen waren von Anfang an durch die Interessen, die Problemwahrnehmungen und die Machtverhältnisse der Anti-Hitler-Koalition und den beginnenden Ost-West-Gegensatz geprägt. Dies erklärt die Konstruktion des Sicherheitsrates, des einzigen VN-Gremiums das rechtsverbindliche Entscheidungen treffen kann. Es erklärt auch den Charakter der Bretton Woods-Institutionen, von Internationalem Währungsfonds und Weltbank, die zwar unter dem Dach der VN residieren, aber weder eine Rechenschaftspflicht gegenüber der Generalversammlung noch deren Weisungen akzeptierten, noch dem Abstimmungsprinzip one nation-one vote folgen.

In der Geschichte der Vereinten Nationen lassen sich drei strukturelle Brüche beobachten:

(1) Erstens kamen mit dem Ende der Entkolonialisierung in den sechziger Jahren rund einhundert neue formal unabhängige Staaten dazu. Dadurch veränderte sich die Mehrheit in der Generalversammlung, und zwar immer häufiger zum Nachteil der Interessen der kapitalistischen Länder. Ihr wichtiges Forum wurde die UNCTAD, und ihr größter Erfolg die Verabschiedung der Neuen Weltwirtschaftsordnung 1974, die zusammenfiel mit der beginnenden Weltwirtschaftskrise, eine Totgeburt von Anfang an. Die westlichen Länder haben sowohl das Integrierte Rohstoffabkommen als auch den Verhaltenskodex für transnationale Unternehmen abgelehnt und UNCTAD schnell zur Bedeutungslosigkeit verurteilt. Stattdessen bevorzugten sie das GATT, ab 1995 WTO, das außerhalb der UNO steht.

(2) 1975 begann die Runde der Weltwirtschaftsgipfel, die zur G 7 und später, mit der teilweisen Einbeziehung Russlands, zur G 8 wurde. Die Bedeutung dieses Schrittes ist häufig unterschätzt worden: Es war der Beginn der systematischen Entmachtung der VN durch die Regierung der Vereinigten Staaten, die dabei zumindest stillschweigend von ihren westlichen Alliierten unterstützt wurde. Die US-Regierung bezahlte nur noch die Minimalbeiträge, um ihr Stimmrecht nicht zu verlieren. Sie nutzte ihr Vetorecht im Sicherheitsrat, um ihre eigenen egoistischen Interessen und die ihres engsten Verbündeten, Israel, vor kritischen Resolutionen der Generalversammlung zu schützen. Und sie zog sich zunächst aus der Internationalen Arbeitsorganisation (1975), später aus der UNESCO (1984) zurück im Versuch, die Vereinten Nationen unter engere Kontrolle zu bringen. Sie verweigerte die Unterschrift unter zahlreiche Abkommen vor allem zur Rüstungsbegrenzung, boykottierte internationale Verhandlungen und verletzte ungestraft zahlreiche internationale Konventionen. Als sie damit nicht erfolgreich war, baute sie ein neues globales Machtzentrum jenseits jeder demokratischen Kontrolle auf, eben die G 7. Die beherrscht nicht nur den Sicherheitsrat , sondern auch den IWF und die Weltbank auf Grund der Stimmverhältnisse. Sie hat überwältigende Macht in der WTO und schließlich mit der NATO auch einen militärischen Arm. Allerdings hat der Unilateralismus der Bush 2-Administration die G 8 bis an die Grenzen ihrer Konsensfähigkeit strapaziert.

Der dritte Strukturbruch folgte auf den Zusammenbruch der sozialistischen Regime. Wieder nahm die Zahl der Mitgliedsländer zu. Aber der erste Irakkrieg 1990/91 markierte auch den entschiedenen Willen der US-Regierung zum Alleingang. Die Ernennung eines erklärten VN-Gegners zum Ständigen Vertreter der USA bei den VN 2005 bestätigte die Absicht, die Weltorganisation vollends zu entmachten. Kaum drei Wochen im Amt, legte John Bolton den VN 750 Reformforderungen vor und drohte mit dem Ende aller US-Beiträge für den Fall, dass die VN seinen Forderungen nicht folgen würde. Immerhin konnte er sich nicht durchsetzen und wurde wieder abgezogen.

Die neue Welle der Globalisierung hat die Rolle der Nationalstaaten seit der Mitte der siebziger Jahre erheblich verändert. Demokratische Verfahren und Kontrollen blieben fragmentiert auf der nationalen Ebene, während immer mehr Entscheidungen auf der globalen Ebene ausgehandelt und formal getroffen wurden. Im Verlauf dieses Prozesses sind IWF/Weltbank und die WTO immer deutlicher als zentrale Instrumente der amerikanischen Weltpolitik in den Vordergrund getreten, um die neoliberale Agenda zu befördern. Der Washington Consensus, auf den die sog. Strukturanpassungspolitik sich stützt, ist niemals formell angenommen worden. Er wurde von einer kleinen Gruppe im amerikanischen Schatzamt und dem IWF ausgearbeitet und stillschweigend durch die wichtigsten IWF-Mitgliedsländer mitgetragen. Erst kürzlich haben wir aus den Bekenntnissen eines Economic Hit Man erfahren, wie die US-Nachrichtendienste Entwicklungsländer in die Schuldenfalle getrieben haben, um dadurch die Kontrolle über ihre Wirtschaftspolitik und ihre Entwicklung zu erlangen. Das verlief zuweilen nicht weniger blutig als die Operation Gladio, in der Geheimarmeen der NATO unter Führung der CIA alles unternahmen, um in Europa die Position linker Parteien zu schwächen und ihre Regierungsbeteiligung zu verhindern.

Unter dem Begriff Washington Consensus fasst man eine Reihe von Maßnahmen zusammen, die seit den 1980er Jahren den Entwicklungsländern, zur Zeit den südeuropäischen Ländern aufgezwungen werden:

und einige andere mehr.

Die unmittelbare Folge ist die Spaltung der Gesellschaft in einige wenige Reiche und die große Masse der lohnabhängig beschäftigten Ärmeren. Dazu kommt der Druck, einheimische Rohstoffe billig zu verkaufen und für Importe - Ausrüstungen, Ersatzteile, Medikamente etc. - mehr zu bezahlen. Die weltweite Polarisierung zwischen armen und reichen Ländern geht wesentlich auf diese Politik zurück. Gewinner sind die Transnationalen Konzerne und die Banken.

Die Aufhebung von Zöllen und Handelsbarrieren im GATT und in der WTO, begleitet von einer fast vollständigen Liberalisierung des Kapitalverkehrs, verhalf den großen transnationalen Unternehmen zu einer Macht weit über der vieler Nationalstaaten. Sie haben keine nationalen Wurzeln, sie verschieben ihre Standorte und die ihrer Filialen beliebig hin und her, um von Steuervorteilen, geringen Umweltauflagen und Sicherheitsbestimmungen, inexistenten Gewerkschaften und Tarifverhandlungen zu profitieren und in großem Umfang Kosten zu externalisieren. Nationale Regierungen, unwillig oder unfähig, sie zu kontrollieren, sehen sich immer häufiger als Dienstleister für die TNUs. Gleichzeitig werden die Entscheidungen über Unternehmensstrategien immer mehr von institutionellen Anlegern, Banken, Versicherungen, Aktien- und Pensionsfonds, beeinflusst. Anteilseigner retten ihr Geld auf Steueroasen, die die zumindest stillschweigende Duldung der nationalen Regierungen genossen, und vermeiden damit, zur Umverteilung, zur Erhaltung der Infrastrukturen, zur sozialen Gerechtigkeit beizutragen.

Viel weniger bekannt und verstanden ist ein daraus folgender Prozess, den man heute Finanzialisierung nennt und der am 15. August 1971 begonnen hat: An diesem Tag nämlich hat der damalige US-Präsident Nixon die Goldbindung des Dollar aufgekündigt. Das hat auf der einen Seite zur Freigabe der Wechselkurse und damit zur Devisenspekulation geführt, auf der anderen Seite der US-Regierung eine praktisch unbegrenzte Vermehrung der Geldmenge erlaubt. Da Öl und andere Rohstoffe in US-Dollar gehandelt werden, streben alle Regierungen danach, ihre Währungsreserven in Dollar zu halten. Die USA können sich deshalb die Importe aus anderen Ländern zu den bloßen Druckkosten ihrer Dollars aneignen! Und die Ansammlung großen Mengen von Geldkapital bei den institutionellen Anlegern - Investmentgesellschaften, Banken, Versicherungen, Pensionsfonds - führt dazu, dass immer größere Teile der Realwirtschaft von ihnen beherrscht und zur kurzfristigen Maximierung der Gewinne und der Börsenkurse gezwungen werden. Nur durch diese unbegrenzte Geldmengenvermehrung können die USA ihr gigantisches Militärpotenzial finanzieren.

Mit der neokonservativen Wende zu Beginn der 1980er Jahre werden auch die Wirtschafts-, Steuer- und Sozialpolitik zunehmend im Interesse der großen Unternehmen und der Reichen reformiert. Die Finanzierungskrise der öffentlichen Hände hat dort ihren Ursprung.

Das ist die eine Seite der Globalisierung. Aber es gibt eine zweite Seite:

Sie beginnt mit der Weltkonferenz für Umwelt und Entwicklung 1992. Sie diskutierte das Konzept der Nachhaltigen Entwicklung und gründete sich auf zwei Säulen: die Vereinten Nationen auf der einen, die internationalen Nichtregierungsorganisationen (INGOs) auf der anderen Seite. In der folgenden Serie der Weltkonferenzen - 1992 Umwelt und Entwicklung, 1993 Menschenrechte, 1994 Bevölkerung, 1995 soziale Entwicklung und Frauen, 1996 Stadtentwicklung, 1998 soziale Verantwortung der Wissenschaft - spielten die VN eine wichtige Rolle in der Definition globaler Probleme. Jede diese Konferenzen endete mit der Verabschiedung einer Erklärung und eines Aktionsprogramms. In ihrer Summe bilden sie ein Inventar rationalen und humanen Weltgewissens, unterzeichnet von der Mehrheit nationaler Regierungen, auch wenn die (vor allem die OECD-Staaten) entschlossen waren, dem keine Taten folgen zu lassen.

Auf diesen Weltkonferenzen traten die NGOs zum ersten Mal auf globaler Ebene in Erscheinung. Sie waren nicht neu im VN-System, aber UNCED war der erste Anlass, einen Gegengipfel zu veranstalten und sich als globaler Akteur darzustellen. Seither sorgen sie für spektakuläre Ereignisse nicht nur am Rand von VN-Konferenzen, sondern an den Gipfeln von IWF und Weltbank, der WTO oder der G 7. Ihr wichtigster Erfolg bestand in der Veröffentlichung geheimer Dokumente über die Verhandlungen zu einem Multilateralen Investitionsabkommen (MAI) 1998, die in der WTO begonnen hatten, dann aber in die OECD verlagert wurden, um Entwicklungsländer von den Verhandlungen auszuschließen - die Blaupause für die heute diskutierten Handelsabkommen. Das Abkommen hätte die Nationalstaaten zum Vorteil der TNUs entmachtet, aber es verschwand, als es ans Licht der Öffentlichkeit gelangte. INGOs haben eine immer wichtigere Rolle gespielt als es darum ging, Entwicklungsländer in solchen Verhandlungen zu unterstützen. Es ist kaum übertrieben anzunehmen, dass sie der Dritten Welt geholfen haben, den Zumutungen der reichen Länder zu widerstehen. Darüber hinaus klagen sie auf der nationalen Ebene die Erfüllung der Verpflichtungen ein, die die nationalen Regierungen mit der Unterzeichnungen internationaler Konferenzdokumente eingegangen sind (wie z.B. die zahlreichen Lokale Agenda 21-Bewegungen).

Wie wichtig das auch immer sein mag, es hat dennoch wenig zur Demokratisierung beigetragen, weil NGOs kein öffentlich legitimiertes Mandat haben. Aber die internationale Zivilgesellschaft ist in Bewegung: Die Weltsozialforen, beginnend in Porto Alegre, Brasilien, haben sich inzwischen auf der kontinentalen, nationalen und oft auch regionalen Ebene etabliert. Diese Bewegung, mit Le Monde Diplomatique als Sprachrohr und Attac als einer der wichtigsten Organisationen, wird freilich überwiegend getragen von westlichen, oder jedenfalls im Westen ausgebildeten Mittelschicht-Intellektuellen.

 

3. Wie könnte Globale Demokratie aussehen?

Wenn nun die Nationalstaaten, wie im Fall der Europäischen Union, bereit wären, nationale Regulierungskompetenz auf höhere Ebene zu übertragen, dann müssten demokratische Institutionen und Verfahren erfunden werden um sicher zu stellen, dass der egoistische Wille der Wenigen nicht obsiegt über das Gemeine Wohl der Mehrheit.

Wie könnte man sich eine demokratisch verfasste Weltregierung vorstellen? Viele würden wahrscheinlich ein Modell gutheißen, in dessen Zentrum die Vereinten Nationen stünden. Ein neues Weltparlament könnte die erste Kammer bilden, die bestehende Generalversammlung analog zu unserem Bundesrat die zweite. Die bestehenden internationalen Gerichtshöfe würden den Kern der globalen Judikative bilden. Die Exekutive könnte aus dem bestehenden Sekretariat, vielleicht unterstützt durch einen reformierten ECOSOC gebildet werden (analog zum Bundeskanzleramt). Dann würden die bestehenden Sonderorganisationen zu Ministerien: die UNESCO zu einem Ministerium für Kultur, Bildung und Wissenschaft; die UNEP zu einem Ministerium für Umwelt und Rohstoffe; die WTO, ergänzt durch die UNCTAD, wäre verantwortlich für Wirtschaft; die ILO für Arbeit und soziale Sicherheit; die FAO für Ernährung und Landwirtschaft; die WHO für öffentliche Gesundheit; und UNDP für Entwicklung. Ein neues Finanzministerium wäre aufzubauen, da der Währungsfonds und die Weltbank sich als nicht reformierbar erweisen werden; und ein neues Ministerium für Abrüstung und Konfliktlösung würde den Sicherheitsrat ersetzten, der in seiner derzeitigen Konstruktion kaum überlebensfähig sein dürfte.

Auf der einen Seite würde eine solche Konstruktion Nutzen ziehen aus dem hohen Sachverstand, der in den bestehenden Organisationen vorhanden ist. Zusätzlich würde aber auch die lange Erfahrung dieser Institutionen mit multikulturell zusammengesetztem Personal und den damit verbundenen unvermeidlichen Problemen und Friktionen genutzt. Alle diese Institutionen würden dem Völkerrecht und den Entscheidungen des Weltparlaments unterstellt. Völkerrechtlich bindende Beschlüsse könnten mit einer qualifizierten Mehrheit von 85 Prozent getroffen werden (wie heute im IWF). Ein Weg müsste gefunden werden, um die Entscheidungen der Weltregierung weltweit durchzusetzen, auch gegen den Willen einzelner Nationalstaaten. Die Weltregierung sollte z.B. durch ein Votum des Weltparlaments legitimiert sein, nukleare Abrüstung durchzusetzen. Sie müsste daher zweifellos mit einem graduell durchzusetzenden Gewaltmonopol ausgestattet sein. Die Finanzierung wäre unproblematisch, die Organisationen müssten nicht einmal umziehen. Das exekutive Geschäft könnte durch eine Art der Tobin-Steuer finanziert werden, die gleichzeitig die internationale Spekulation verlangsamte.

Die Aufgaben einer solchen Weltregierung würden nach dem Subsidiaritätsprinzip definiert, wie es z.B. im Vertrag von Maastricht festgelegt ist. Nur wenn das Weltparlament ein Problem als global relevant und gleichzeitig als auf der regionalen oder nationalen Ebene unlösbar definiert, sollte es in die Verantwortung der Weltregierung überwiesen werden. Es ist nicht allzu schwer sich vorzustellen, was die Mehrheit der Weltbevölkerung von einer Weltregierung erwarten würde: Frieden, Abrüstung und Sicherheit; den Schutz der natürlichen Lebensgrundlagen; die Durchsetzung der Menschenrechte für alle; eine gewisse Kontrolle über die globalen Finanzströme und das Verhalten transnationaler Konzerne; Transparenz, Information und Beteiligung an den Entscheidungen, die sie selber betreffen oder, in einem Wort: Demokratie.

Es ist also gar nicht schwer, sich eine Weltregierung vorzustellen, nur: Unter den gegebenen Machtverhältnissen hat sie keine Chance, realisiert zu werden.

 

4. Was sollte getan werden?

Es gibt drei Elemente, die in ihrem Zusammenwirken eine neue Handlungschance eröffnen könnten: (1) Überall auf der Welt wächst der Zweifel am amerikanischen Unilateralismus und Machtanspruch und an der neoliberalen Agenda; (2) die drohende wirtschaftliche und soziale Krise in den USA selbst; und (3) das neue Selbstbewusstsein der Entwicklungsländer in den internationalen Finanz- und Wirtschaftsinstitutionen.

Die zunehmende Skepsis, ja der Hass sind in den arabischen Ländern offensichtlich und kaum erklärungsbedürftig, nachdem die USA und ihre Verbündeten den Islam so sehr dämonisiert, mit nachgewiesen falschen Argumenten Kriege angezettelt und Hunderttausende von Menschen ermordet haben. Einen guten Indikator liefert auch Lateinamerika, jahrzehntelang der Hinterhof der USA und das bevorzugte Opfer der Strukturanpassungsdiktate und Todesschwadronen. Brasilien und Argentinien, Venezuela und Nikaragua, Bolivien und Chile haben links gewählt und amerikakritische Regierungen eingerichtet. Schon sind es zu viele, um das Problem wie 1973 durch die Ermordung eines ihrer Führer zu lösen. In Asien hat die Schanghai-Kooperationsgruppe, neuerdings ergänzt durch Indien und den Iran, die amerikanische Regierung aufgefordert mitzuteilen, wann sie ihre Militärbasen zu schließen gedenke. Eine ganze Reihe von Ländern hat angekündigt bzw. schon begonnen, ihre Währungsreserven von Dollar auf Euro umzuschichten, und einige ölexportierende Länder wollen ihr Öl nicht länger in Dollar, sondern in Euro oder Gold handeln.

Innerhalb der USA scheint die sozio-ökonomische Polarisierung unübersehbar. Fünfzig Millionen Menschen vegetieren unterhalb der offiziellen Armutsgrenze, der weltweit höchste Anteil junger Männer sitzt im Gefängnis oder unter Justizaufsicht, die Spionage-, Korruptions- und Lobbyaffären, die Einschränkung von Grundrechten unter den Patriot Acts - sie alle wirkten zusammen und schaffen eine Atmosphäre, die plötzlichen Wandel möglich machen könnte. Präsident Obama, mit so viel Hoffnung ins Amt geholt, erweist sich als nicht weniger kriegerisch als sein Vorgänger.

Die BRICS - Brasilien, Russland, Indien, China, Südafrika - haben begonnen, sich aus der Schuldenfalle zu befreien und haben an ihrem letzten Gipfel im Frühjahr beschlossen, eigene Institutionen analog zu Währungsfonds und Weltbank aufzubauen. Sie vor allem wollen die beherrschende Rolle des Dollar im internationalen Handel brechen.

Wenn wir dies alles begreifen als Elemente in einem größeren Mosaik, dann wird auch klar, was zu tun ist. Die europäischen Regierungen müssen handeln. Sie müssten Obama deutlich machen, dass sie amerikanische Alleingänge nicht länger unterstützen werden. Gleichzeitig sollten sie in Gremien wie dem Sicherheitsrat, IWF/Weltbank und der WTO mehr Einsicht in und größeres Verständnis für die Lage und die Bedürfnisse der Entwicklungsländer signalisieren. Sie sollten ungleiche Standards (wie im Fall der iranischen Atomforschung) und ungerechte Handelsbarrieren aufgeben. Sie sollten dazu beitragen, ein neues Modell für eine demokratische und gerechte Weltordnung zu erarbeiten. Eine vorzügliche Chance dafür haben wir jetzt gerade im Widerstand gegen die Handelsverträge CETA, TISA, TTP und TTIP.

Wir müssen der neoliberalen Agenda widerstehen, die den inneren Zusammenhalt und die Solidarität unserer Gesellschaften zerstört im egomanischen und skrupellosen Interesse einiger Weniger, und wir sollten all jene unterstützen, die sich dafür engagieren. Die europäische Aufklärung und die schmerzliche Überwindung des blutigen 20. Jahrhunderts müssen uns dabei leiten. Wir sind an einer Wegscheide. Es gibt gute Gründe, die Hoffnung auf eine demokratischere Welt nicht aufzugeben, auch wenn so viele Zeichen in die andere Richtung weisen. Wir haben gar keine Wahl: Wir müssen den Weg für eine globale Demokratie bereiten - denn die Alternative wird Krieg sein. Weltkrieg.


powered by CMBasic